Liebe Frau Wurmb-Seibel, wann haben Sie sich das letzte Mal einsam gefühlt?
Mein Alltag ist momentan sehr verbunden und von Familienalltag geprägt. Es ist also schon eine Weile her: Wenn ich länger alleine auf Lesereisen bin, fühle ich mich häufig einsam.
Fühlen wir uns als Gesellschaft heute einsamer als früher?
Das ist schwierig zu sagen. Einsamkeitsforschung in Deutschland ist ein eher junges Forschungsfeld. Was wir sagen können: Während der Pandemie ist die Zahl der Menschen, die sich einsam fühlen, deutlich gestiegen und auch jetzt noch auf einem höheren Niveau als zuvor.
Kann unsere Einsamkeit auch damit zusammenhängen, dass wir als Gesellschaft immer individueller werden? 1950 lebten zum Beispiel 6% der Deutschen allein, 2022 waren es schon 20%. Das heißt: In über 41% der deutschen Haushalte lebt nur eine Person. Was macht das mit uns?
Die Forschung ist sich darin einig, dass die Frage, ob wir alleine leben oder nicht erstmal nichts mit Einsamkeit zu tun hat. Viele Menschen, die alleine leben, verabreden sich häufiger als solche, die zum Beispiel in einem Familienverbund leben. Wir können Einsamkeit nicht an äußeren Faktoren festmachen. Einsam ist, wer weniger soziale Verbundenheit fühlt, als er oder sie es gerne hätte. Das ist individuell und sehr verschieden. Was wir wissen: Menschen tendieren dazu, sich in Umbruchphasen einsam zu fühlen: nach dem Schulabschluss, beim ersten Kind zum Beispiel oder zu Beginn der Rente.
Was können Menschen, die sich einsam fühlen, ganz konkret tun? Was sind erste Schritte?
Der erste Tipp klingt sehr banal: Aufstehen und vor die Tür gehen, den Kontakt zu anderen suchen. Schon ein kurzer Wortwechsel an der Supermarktkasse kann das Gefühl von Einsamkeit kurzfristig lindern. Ganz allgemein: nicht zuhause warten und hoffen, dass sich jemand meldet, sondern sich bemerkbar machen. Leuten schreiben, jemanden anrufen, mit jemanden reden. Wenn wir in unserem Leben momentan niemanden dafür haben, können das auch Mitarbeitende des Sorgentelefons sein. Jeder menschliche Kontakt hilft. Wir brauchen einander.
In Ihrem aktuellen Buch „Zusammen“ beschreiben Sie auch den Zusammenhang von Einsamkeit und politischer Radikalisierung. Laut dem Einsamkeitsbarometer 2024 vom Familienministerium kann Einsamkeit zu einem reduzierten Vertrauen in politische Institutionen führen und die Empfänglichkeit für Verschwörungserzählungen steigern. Wie hängt das Ihrer Meinung nach zusammen?
Unser Gehirn reagiert auf das Gefühl, isoliert oder ausgegrenzt zu sein, mit einer Art Überlebensmodus. Dann geht es nur noch um Verteidigung – unseren Mitmenschen gegenüber aber eben auch gegenüber den politischen Institutionen. Dieses Misstrauen in politische Institutionen und die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien nutzen Rechtsextreme häufig ganz gezielt, zum Beispiel, indem sie ihre Anhängerschaft als «Familie» ansprechen. Je radikaler Menschen werden, desto mehr distanziert sich ihr bisheriges Umfeld von ihnen. Die Betroffenen sind noch mehr auf den Rückhalt der jeweiligen rechtsextremen Gruppierung angewiesen. Wichtig ist: Nicht alle, die sich einsam fühlen, werden radikal. Aber das Risiko steigt deutlich.
![In ihrem neuen Buch „Zusammen“ beschreibt die Autorin Ronja von Wurmb-Seibel warum wir für ein gutes Leben Verbündete brauchen – und wie wir sie finden.](/binaries/content/gallery/tbde/inline/2025/02_interview-mit-ronja-wurmb-seibel/wurmb-seibel_cover_zusammen_978-3-466-37326-0.jpg/wurmb-seibel_cover_zusammen_978-3-466-37326-0.jpg/triodoshippo%3AinlineImage)
Was bräuchte es für gesellschaftliche Strukturen, um einsame Menschen auffangen?
Das beginnt schon bei der Art, wie wir Städte planen: Breitere Gehwege erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen Wege zu Fuß zurücklegen, und dabei anderen begegnen. Ein wirksames Mittel gegen Einsamkeit sind sogenannte third spaces, also dritte Orte neben dem eigenen Zuhause und dem Arbeitsplatz, an dem sich Menschen begegnen können, ohne konsumieren zu müssen. Das Bilderbuch-Beispiel wäre ein italienischer Marktplatz, an dem sich alle unverbindlich treffen. Aber es kann auch ein Park sein oder eine Bücherei. Auch im Gesundheitssystem können Änderungen viel bewirken: In einigen Ländern gibt es bereits das sogenannte „Social Prescribing“, also das Verschreiben von gemeinschaftlichen Aktivitäten als Mittel gegen Einsamkeit, aber auch bei anderen Krankheiten. Und natürlich sind Kunst und Kultur gute Mittel, um unterschiedliche Menschen zusammenzubringen und ins Gespräch zu bringen.
Verraten Sie uns noch Ihren Lieblingstipp für mehr Gemeinschaft?
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