Herr Stegeman, wie haben Sie das Börsenjahr 2022 erlebt?
Hans Stegeman: Es war ein sehr besonderes Jahr. 2022 war gezeichnet von Krieg und damit einhergehend der Rückkehr von Inflation und steigenden Zinsen. 2022 wurde ganz klar von den Zentralbanken dominiert, die den Markt jahrelang mit hoher Liquidität versorgt und ihre Politik dann drastisch geändert haben. Das Thema Inflation lag bereits Ende 2021 auf dem Tisch, ist aber durch den Krieg dominanter geworden.
Was das Jahr 2022 zusätzlich so besonders machte, war, dass die Makrozahlen schwer zu interpretieren waren. Viele dieser Zahlen fielen im vergangenen Jahr noch positiv aus. Da wir 2021 noch immer mit Lockdowns zu kämpfen hatten, stand dennoch eine mögliche Rezession im Fokus.
Und zum Herbst hin knickten die Aktienmärkte ein…
Stegeman: 2022 haben wir sowohl bei Aktien als auch bei Anleihen eine deutliche Korrektur gesehen. Es gab eindeutig bessere Börsenjahre. Allgemeiner betrachtet war das die Korrektur, auf die viele lange gewartet haben. Irgendwann musste es passieren.
Auffallend ist, dass sich 2022 gerade nicht nachhaltige Aktien wie fossile Energieträger und Waffenunternehmen gut entwickelt haben. Das ist für ein nachhaltiges Investmenthaus wie Triodos Investment Management (TIM), die 100%igeTochtergesellschaft der Triodos Bank, sicherlich irritierend, oder?
Stegeman: Das ist für TIM als nachhaltiger Investor natürlich keine gute Entwicklung gewesen. Nicht nur für TIM, sondern auch für den für alle so notwendigen Übergang zur Nachhaltigkeit. Dass gerade die fossilen Energien 2022 so gut abgeschnitten haben, ist jedoch ganz einfach erklärbar und aus kurzfristiger Perspektive mehr als logisch. Die schlechte Performance von Tech-Werten im vergangenen Jahr hat viele nachhaltige Anleger hart getroffen. In vielen nachhaltigen Portfolios wurde, anders als in dem von TIM, zu sehr auf Tech-Werte gesetzt. Was sich 2022 positiv auf das TIM Portfolio ausgewirkt hat, waren die Renditen aus Projekten für erneuerbare Energien.
Sind Sie der Ansicht, dass Investitionen in fossile Brennstoffe sich auf lange Sicht zu „Stranded Assets“ wandeln?
Stegeman: Wenn Unternehmen für fossile Energie nicht an der Energiewende teilnehmen, schaufeln sie sich ihr eigenes Grab. Im Übrigen sind im Bereich der Energiepolitik gute Fortschritte zu verzeichnen. Die USA haben einen ausgeklügelten Plan, um Nachhaltigkeit zu subventionieren – genau wie Europa mit seinem Green Deal, der die Klimaneutralität Europas bis 2050 zum Ziel hat. Energieversorgungssicherheit für Europa bedeutet mehr Investitionen in erneuerbare Energien. Das spielt nachhaltigen Investor:innen in die Karten.
Langfristig ist die einzige glaubwürdige Strategie eine nachhaltige Anlagestrategie. Es fließt so viel Geld in Projekte für erneuerbaren Energien und Infrastruktur – sowohl öffentlich als auch privat – dass die Renditen nach und nach ganz von selbst kommen. Davon bin ich überzeugt. Aber leicht wird es nicht: Nachhaltig in eine nicht-nachhaltige Wirtschaft zu investieren ist eine langfristige Strategie.
Selbst die defensivsten Anleger:innen hatten im vergangenen Jahr Renditeverluste zu erleiden. Was ist Ihre Botschaft an sie?
Stegeman: Es ist sehr frustrierend für defensive Anleger:innen, genauso viel Geld verloren zu haben wie Anleger:innen, die risikoreich investiert sind. Das mussten auch wir erstmal unseren Kund:innen erklären. Aber die Renditeverluste der defensiven Portfolios haben mit der Kursänderung der Zentralbanken zu tun. Mit einem derart starken Anstieg der Zinsen, wie wir ihn im vergangenen Jahr erlebt haben, konnte niemand rechnen.
Jetzt blicken die Marktteilnehmer:innen nach vorn.
Stegeman: Glücklicherweise dürfte das nächste Jahr ganz anders aussehen. Die Zinsen werden nicht mehr so stark steigen und die langfristigen Zinssätze könnten sogar sinken. Die Hochinflation sollte jetzt hinter uns liegen. Man kann davon ausgehen, dass defensive Anleger:innen im Jahr 2023 stabilere Ergebnisse erzielen werden.
Wie schätzen Sie die Entwicklung der einzelnen Assetklassen ein und was sind die Investitionserwartungen von Triodos Investment Management für 2023 und darüber hinaus?
Stegeman: TIM beurteilt Anleihen nun positiver und Aktien weiterhin neutral. Was die einzelnen Regionen betrifft, so blickt TIM sehr besorgt auf Europa und ist nicht sehr positiv eingestellt, was die Entwicklung der USA anbelangt, doch positiver als 2022, als die Marktkorrektur erst noch bevorstand. Langfristig sieht das Bild für nachhaltige Portfolios besser aus als zu Beginn des vergangenen Jahres. Auf lange Sicht ist die Vision von TIM jedoch eine andere als die der meisten Investmenthäuser: TIM beurteilt die langfristigen Performanceaussichten von nicht nachhaltigen Portfolios als sehr negativ.
Könnten Sie diese Prognose genauer erläutern?
Stegeman: Traditionell ist die durchschnittliche langfristig zu erwartende Rendite von Aktien die Summe aus Wirtschaftswachstum, Inflation und einer Risikoprämie. Als Triodos Bank sind wir jedoch der Ansicht, dass die Weltwirtschaft nicht weiter in dem Tempo der vergangenen Jahrzehnte wachsen kann, ohne irreparable Schäden zu verursachen. Der einzige Weg, den Kund:innen etwas für ihr Geld zu bieten, besteht darin, alles auszuschließen, was unserer Welt schadet, und nur in Unternehmen zu investieren, die wirklich etwas zum wirtschaftlichen Wandel beitragen. Darin steckt die Rendite. Das ist der Kern unseres Ansatzes: Rendite und eine bessere Welt gehen Hand in Hand.
Haben Unternehmen im Bereich fossiler Energieträger, die versuchen, sich von Kohle und Öl zu lösen und ihr Geschäftsmodell ändern wollen, eine Chance, in das TIM- Portfolio zu kommen?
Stegeman: Ob Unternehmen eine nachhaltige Wirkung erzielen, ist das wichtigste Auswahlkriterium von TIM. Alles, was da nicht reinpasst, kommt auch nicht ins Portfolio. Deshalb schließt TIM alles aus, was fossil ist. Sollte ein Unternehmen im Bereich fossile Energieträger jedoch eine klare und überprüfbare Strategie haben, um sich von fossilen Brennstoffen zu lösen, könnte ein solches Unternehmen in die TIM- Portfolios passen. TIM schaut sich das Unternehmen sehr genau an, bevor es an dessen Vision glaubt.
Welches sind Ihrer Meinung nach die größten Risiken für Anleger:innen?
Stegeman: Leider ist das eine beachtliche Liste. Eine Gefahr besteht darin, dass die Inflation für eine lange Zeit hoch bleiben wird. Das zwingt die Zentralbanken, die Zinssätze stärker als derzeit erwartet anzuheben. Dann gibt es viele geopolitische Risiken, wie die Spannungen zwischen den USA und China sowie den Ukrainekrieg.
Vor allem frage ich mich aber, was die bereits umgesetzten Zinserhöhungen langfristig für die Wirtschaft bedeuten. Was machen sie mit den Kreditkosten von Unternehmen und was mit dem Wohnungsmarkt? Einen so starken Zinsanstieg in so kurzer Zeit haben wir seit den späten 1970er-Jahren nicht mehr erlebt. Bekanntlich wirken sich Zinserhöhungen verzögert auf die Wirtschaft aus. Darüber hinaus besteht immer die Gefahr eines „Overshoots“ – die Zinsen werden stärker angehoben, als es eigentlich notwendig ist. Es ist klar, dass die Weltwirtschaft heute anders aussieht als noch vor ein paar Jahren. Die Staatsverschuldung ist rund um die Welt stark gestiegen. Das erhöht Risiken.
Wichtig ist auch die Position des Endverbrauchers. Dieser gibt auch heute noch viel Geld aus, da der Arbeitsmarkt noch immer stark ist und weil während der Pandemie viel Geld im Sparschwein landete. Aber diese Ersparnisse sind nun weitgehend aufgebraucht. Die Regierungen haben aufgrund klammer Kassen nicht mehr die Möglichkeit, zusätzliches Geld aufzuwenden, um die Verbrauchernachfrage aufrechtzuerhalten.
Dennoch ist es bemerkenswert, wie optimistisch die Börsenerwartungen sind. Wie stehen Sie dazu?
Stegeman: Die Vielzahl negativer Aspekte ist noch immer präsent, aber viele der positiven Aspekte haben sich inzwischen abgeschwächt. Viele Anleger:innen nehmen die Risiken jedoch nicht ernst, weil sie glauben, dass eine schwache Konjunktur zu niedrigeren Zinssätzen führen wird, was die Märkte wiederum unterstützen sollte. Diesen Optimismus teile ich nicht. Ich mache mir wirklich Sorgen über die Risiken in der Realwirtschaft.
Aber zu düster ist die Lage doch nicht, oder?
Stegeman: Vielen westlichen Volkswirtschaften geht es immer noch relativ gut. Selbst für Europa sind die Zahlen noch immer recht positiv. Auch die Bilanzen multinationaler Unternehmen stehen nicht so schlecht da. Die Welt ist mehr als nur Europa – die hier ansässigen Anleger:innen vergessen das indes manchmal.
Wie sollten sich langfristige Anleger:innen jetzt am besten positionieren?
Stegeman: Die Risiken defensiver Portfolios sind nicht mehr so groß. Ich rechne mit einem Realrückgang der Inflation. Darüber hinaus würde ich alles ausschließen, was nicht nachhaltig ist. Nicht nur aus Renditenperspektive betrachtet, sondern vor allem aus der Perspektive des Risikos. Mein Rat an alle Anleger:innen: Risiken sind tunlichst zu vermeiden.
Wenn Sie das kommende Jahr mit einem Wort zusammenfassen müssten, was wäre das?
Stegeman: Resilienz! Das bedeutet, frei übersetzt, Widerstandsfähigkeit. Die Unsicherheit ist aktuell so groß, dass die Portfolios einigem standhalten können müssen. Anleger:innen sollten sich in diesem Umfeld mehr denn je auf den Übergang zu umfassender Nachhaltigkeit vorbereiteten. Die Portfolios müssen jetzt entsprechend widerstandsfähig aufgestellt werden.
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